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Ost-Ukraine: Grösste Flüchtlingswelle seit dem 2. Weltkrieg

1. Oktober 2015

Europa blickt auf die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer – dabei wird vergessen, dass in der Ukraine so viele Menschen fliehen wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Und der Konflikt in der Ostukraine schwelt weiter. Noch immer halten sich hundertausende Flüchtlinge aus der Krisenregion in verschiedenen Teilen der Ukraine auf uns warten auf ihre Rückkehr. Die humanitäre Situation der Flüchtlinge im eigenen Land ist katastrophal.

Mit etwa zwei Millionen registrierten Flüchtlingen hat der russisch-ukrainische Konflikt bereits Ausmasse wie der Krieg in Bosnien-Herzegowina angenommen. Seit im Juli 2014 in der Ostukraine Krieg um die pro-russischen Gebiete ausgebrochen ist, hat die Flüchtlingswelle aus der Ostukraine in Europa so gewaltige Ausmasse angenommen wie seit den Vertreibungen zwischen 1938 und 1949 nicht mehr. Und wenn die prorussischen Einheiten eine weitere Grossstadt angreifen sollten, warnt die Caritas Ukraine, werden weitere Hunderttausende aufbrechen.

Frau mit Kind auf dem Arm

Trotz diplomatischen Bemühungen um eine politische Lösung des Ukraine-Konflikts gibt es keine Fortschritte und die vereinbarte Waffenruhe im Donbass existiert nur auf dem Papier. Täglich fallen weiterhin Schüsse und sterben Menschen. Die Städte Donezk und Lugansk sind militärisch isoliert und durch Panzerbeschuss fast gänzlich zerstört. Die Lage für die Zivilisten in den Separatisten-gebieten wird unterdessen immer prekärer, insbesondere ausserhalb der Städte. Aus Sorge um ihr Hab und Gut harren viele in ihren zerstörten Behausungen aus bei immer knapper werdenden Lebensmitteln. Die selbsternannten Machthaber können der Bevölkerung weder Sicherheit noch die Leistungen der öffentlichen Hand bieten. Um die Separatisten weiter zu isolieren, kappte Präsident Poroschenko im November 2014 sämtliche Staatsgelder für die Gebiete.

Karte mit Kriegsgebieten
Die Karte zeigt, in welchen Gebieten sich die Menschen, die aus den Kriegsgebieten geflüchtet sind, aufhalten. Wer nicht bei Verwandten untergekommen ist, lebt in Flüchtlingslagern oder Notunterkünften. Ein Grossteil der Flüchtlinge lebt in den angrenzenden Regionen des Konfliktgebiets in der Hoffnung, eines Tages wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können.

Verkehrsverbindungen nach Donezk und Lugansk sind nicht mehr möglich, die Gebiete liegen im militärischen Sperrgebiet. Gas und Strom lässt Kiew nach wie vor in die Separatistengebiete fliessen. Aber um Pensionen und andere Sozialleistungen zu beziehen, müssen die Bewohner von Donezk und Lugansk zu Behördenstellen auf Ukrainisch kontrolliertes Territorium reisen und sich als Binnenflüchtling registrieren. Vom anhaltenden Konflikt in der Ostukraine sind laut Uno rund 5,2 Millionen Personen betroffen. Zur Flucht entscheiden sich mehrheitlich Frauen und Kinder, zurück bleiben oft Männer und Rentner. Für Ende 2014 wurden 1,2 Millionen Flüchtlinge registriert, davon suchten 610 000 innerhalb der Ukraine, 590 000 im Ausland, hauptsächlich in Russland, nach einer neuen Bleibe.

Karte mit aktuellen Kriegsgebieten in den beiden Regionen Donezk und Lughansk
Die Karte zeigt die aktuellen Kriegsgebiete in den beiden Regionen Donezk und Lughansk. Die ganze Zone ist militärisches Sperrgebiet so dass es praktisch nicht möglich ist, Hilfsgüter in die pro-russische Zone zu bringen.

Die Situation in der Ostukraine für alte Menschen

Viele von uns können es sich kaum vorstellen, wie es sein muss, einen Krieg zu erleben, geschweige denn zwei. Die älteren Menschen in der Ostukraine wissen es. Nach ihren Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg sind sie nun wieder zwischen Fronten und Gefechten gefangen. Viele der alten Menschen, die in der sogenannten "grauen Zone", wie das Gebiet um die Frontlinie in der Ostukraine genannt wird, leben, harren trotz ständigem Beschuss bis heute in ihrem Heimatort aus. Oft haben sie keine andere Möglichkeit, als zu bleiben. Wo sollten sie sonst wohnen? Wie sollten sie von ihrer kleinen Rente an einem anderen Ort leben?

Übergabe eines Hilfspaketes an eine alte Frau

In ihren Dörfern sind sie weitgehend von Hilfe abgeschnitten. Hilfslieferungen, die meistens Lebensmittel, Kleidung und Medikamente beinhalten, gibt es zwar. Doch diese Lieferungen erreichen nur diejenigen, die auch in der Lage sind, sich stundenlang in langen Schlangen anzustellen. Für alte, kranke oder gebrechliche Menschen ist das oft ein grosses Hindernis. Soweit möglich versuchen örtliche Hilfsorganisationen diesen besonders Bedürftigen Hilfe zu leisten. Aber die Kapazitäten dieser privaten Initiativen und kleinen Organisationen sind sehr begrenzt. Oft sind die alten Menschen daher ihrem eigenen Schicksal überlassen.

Auf der Flucht im eigenen Land

Wer konnte, hat die umkämpften Gebiete verlassen. Meist mit nicht mehr als einem Koffer und einigen Plastiksäcken, haben sie sich auf den Weg gemacht, um in den angrenzenden Gebieten vor dem andauernden Beschuss Schutz zu suchen. Oft sind sie Hals über Kopf vor der Gewalt geflohen und konnten nur das Nötigste mitnehmen. In Kharkov, Dnietropetrovsk, Zaporizhia und in der Poltava Region sind rund 300'000 Menschen seit einem Jahr notdürftig in allen nur denkbaren Unterkünften untergebracht worden, in Kellern, leer stehenden Häusern, Fabriken und Schulen.

Die New York Times hat einen Videobericht veröffentlicht, der die Situation der Menschen, die aus den Kriegsgebeiten geflohen sind, in eindrücklichen Bildern zeigt. (Leider nur in englisch verfügbar).

Ist man als Binnenflüchtling in der Ukraine registriert, bekommt man als Rentner umgerechnet 18 Euro im Monat. Arbeitsfähigen Menschen und Kindern stehen jedoch nur rund 9 Euro im Monat zu, allerdings können diese durch kleine Nebentätigkeiten etwas dazu verdienen. Rentner und Invaliden haben diese Möglichkeit nicht und so reicht das Geld bei Weitem nicht aus, um über die Runden zu kommen und sich selbst zu versorgen oder die nötige Medizin zu kaufen. In Extremsituationen werden zudem viele ältere Menschen schneller krank. So sind durch die psychische Belastung gesundheitliche Probleme noch viel grösser als unter normalen Umständen. "Spätestens nach zwei Monaten erkranken die meisten betagten Geflüchteten. Anfangs freuen sie sich, dass sie in Sicherheit sind, dass sie nicht mehr das ständige Pfeifen der Granaten ertragen müssen. Aber dann, nach einiger Zeit, brechen alte Krankheiten wieder aus, oft auch psychisch bedingt", berichtet eine Helferin der lokalen Hilfsorganisation.

Familie mit erhaltenen Hilfsgüetern

In der Stadt Dnipropetrowsk, der zweitgrössten ukrainischen Stadt, ca. 250 km nordwestlich von Donezk entfernt gelegen, aber auch in anderen grösseren ostukrainischen Städten wie Kharkov, Zaparoschie oder Slaviansk, gibt es Anlaufstellen für die ankommenden Binnenflüchtlinge. Freiwillige Helfer koordinieren die Arbeit. Sie organisieren erste Hilfe, Kleidung, kostenlose Mahlzeiten. Das Allernötigste. Die ukrainische Regierung ist dagegen heillos überfordert mit der Unterstützung der Geflüchteten. Andere existentielle Probleme gibt es zuhauf: Einen Krieg im Osten des Landes, eine kurz vor dem Kollaps stehende Wirtschaft, eine äusserst knappe Staatskasse, die Korruption, die auch den gestürzten Präsidenten Janukovich überdauert hat und immer noch überall vorzufinden ist. Wären nicht die freiwilligen Helfer von Nichtregierungsorganisationen wie beispielsweise die "Mission Ednist" in Krementschuk, die Geflüchteten wären gänzlich ihrem eigenen Schicksal überlassen.

Kriegsflüchtlinge

Fotogalerie

Die Osteuropahilfe liefert monatlich drei bis vier Hilfsgütertransporte in die Krisengebiete der Ukraine und arbeitet mit mit vielen lokalen Hilfsorganisationen zusammen, welche sich um die Flüchtlinge kümmern. Wir werden zur Zeit überschwemmt von Anfragen für warme Winterkleidung, Schuhe, Bettwaren, Matratzen, Haushaltsartikeln, medizinischen Hilfsgütern und Bedarfsartikel für Kleinkinder. Jeder Sack Kleider kommt einem Menschen zugute, der durch den Krieg alles verloren hat.

Frauen mein Aussuchen von Kleidern
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