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von Marie Czernin
4. März 2010
Seit den letzten Präsidentschaftswahlen im vergangenen Februar, bei denen Viktor Janukowitsch als klarer Sieger hervorgegangen ist, weiß niemand in der Ukraine so recht wie es weitergeht. Die Euphorie der letzten sechs Jahre ist nun endgültig verflossen und die Menschen sind enttäuscht, dass die Politiker der Orangenen Revolution ihre Versprechen nicht gehalten haben. Europa scheint für viele Ukrainer heute ferner denn je, und viele fürchten, dass sich die Ukraine mit Ihrem neuen Präsident nun zu stark dem russischen Nachbarn annähern könnte. Dazu kommt noch die weltweite Wirtschaftskrise, die die Ukraine in eine noch größere Armut getrieben hat.
„Durch die Wirtschaftskrise sind seit vorigem Sommer tausende Menschen arbeitslos geworden. Die Kosten für Lebensmittel, Heizung, Elektrizität und Medikamente sind teilweise um mehr als 50 Prozent gestiegen,“ erklärt Kostya Hontar, der in der Einsatzzentrale von „Triumph des Herzens“ in Kiew tätig ist und seit vielen Jahren mit einer Herzensgeduld den Zoll für die Hilfstransporte aus Österreich, Deutschland und der Schweiz abwickelt. Die vom Schweizer Priester Pater Rolf-Philipp Schönenberger ins Leben gerufene internationale Hilfsorganisation „Triumph des Herzens“ ist seit vielen Jahren in Russland, Rumänien und der Ukraine im caritativen Bereich, aber auch in der Versöhnungsarbeit mit den orthodoxen Schwesterkirchen tätig. „In unserem ökumenischen Begegnungszentrum fanden dieses vergangene Jahr fünf wichtige Treffen statt unter der Beteiligung des Moskauer- und Kiewer Patriarchats, der armenischen Kirche sowie den Tataren. Die armenische Kirche hat durch unsere Vermittlung einen Bauplatz für ihre Kirche bekommen,“ erzählt mit einen gewissen Stolz Pater Rolf-Philipp, der gerade aus Rumänien angekommen ist und auf dem Weg nach Moskau für ein paar Tage in Kiew einen Zwischenstop einlegt, um nach dem Rechten zu sehen.
Kostya ist einer seiner verlässlichsten Mitarbeiter in Kiew. In einem Land, in dem es normal ist, Schmiergelder zu zahlen, um irgendwie vorwärts zu kommen, verbringt der junge Maschinenbauingenieur viele Stunden am Zoll, um mit Geduld und Ausdauer die Zollbeamten zu überzeugen, dass er nicht bereit ist, Schmiergelder für einen Transport aus dem Ausland zu zahlen. „Wir machen keine schwarze Geschäfte, und das ist uns sehr wichtig, um die Seriosität unserer Arbeit zu garantieren,“ hebt Kostya hervor und fragt sich, wie es in seinem Land weitergehen soll. „Die Korruption ist leider immer noch ein riesiges Problem in der Ukraine. Jeder schlägt sich irgendwie durch. Aber wie soll es anders funktionieren, wenn durch die Inflation die Menschen nur eine Rente im Wert von 50-60 Euro erhalten“.
Leonid Sokolov, Direktor von „Serce do Serce“ („von Herz zu Herz“), einer ukrainischen Hilfsorganisation, die schon seit einiger Zeit eng mit „Triumph des Herzens“ zusammenarbeitet, erläutert, was in der Ukraine im Moment am meisten benötigt wird. „Wir brauchen dringend gutes Verbandsmaterial, Rollstühle und diverse Geräte und Einrichtungen für die Spitäler“. Mit seiner Hilfsorganisation ist der ehemalige Journalist und Familienvater in der ganzen Ukraine unterwegs und versucht die Menschen zu unterstützen, wo er nur kann. Er teilt die Hilfsgüter, die zum Großteil auch aus Klagenfurt kommen, persönlich unter den armen Familien aus, bringt ihnen Lebensmittelpakete und beschenkt Kinder mit den Weihnachtspaketen aus der Schweiz. Ein großer Teil der Hilfe geht auch an straffällig gewordene Jugendliche, die einige Zeit im Gefängnis absitzen müssen. Meist haben sie nichts Großes verbrochen, sondern etwas im Supermarkt gestohlen, um ihren Hunger zu stillen. „Bei uns sitzen die Kinder, die ein Stück Brot stehlen, im Gefängnis während die Politiker, die eine Million Euro in ihre Tasche einstecken, gemütlich im Parlament hocken,“ erklärt dazu Kostya mit einem leicht ironischen Lächeln. Dann wird er wieder ernst und zeigt auf, wie schwierig die Situation auch für die Bediensteten in den Krankenhäusern ist „Krankenschwestern verdienen bei uns nur 60-80 Euro im Monat und ein Arzt zwischen 120 und 150 Euro. Ungefähr 40 000 Menschen sterben in der Ukraine pro Jahr allein wegen Alkohol. Aber sie können nicht alle im Krankenhaus versorgt werden. Dazu kommen noch die vielen Drogenabhängigen in unserem Land.“ Neben den vielen Problemen, mit denen dieses krisengeschüttelte Land täglich kämpfen muss, ist seit den 90er Jahren das Drogengeschäft als eine weitere Geisel hinzu gekommen. Die offiziellen Zahlen der Süchtigen in der Ukraine liegen bei 500'000, darunter sind allein 5'000 von ihnen unter 18 Jahre alt. Die meisten der Drogenabhängigen leben im Osten der Ukraine und auf der Krim.
Kostya sorgt sich auch um den rasanten Anstieg von Abtreibungen in der Ukraine. „Bei uns gibt es 500'000 bis 700'000 Abtreibung pro Jahr. Im Jahr 2005 sind überhaupt nur 426'000 Kinder geboren worden. Die Abtreibung ist daher 1,2 mal höher als die Anzahl geborener Kinder.“ In der Tat haben nur zwei Prozent ukrainischer Frauen mit 40 Jahren noch keine Abtreibung erlebt. Dabei werden 50 Prozent der Abtreibungen von Frauen zwischen 20 und 30 Jahren durchgeführt. Seit den 90er Jahren geht die Bevölkerung jedes Jahr um 150'000 Personen zurück. Genug Grund zur Sorge für ein Land, dessen Bewohner langsam aussterben. Die Ukraine besitzt jedoch auch viele Potentiale, die wie die für ihre Fruchtbarkeit berühmte ukrainische Erde seit Jahren brach liegen.
Mit ihren 603‘700 Quadratkilometer Umfang und ihren rund 46 Millionen Einwohnern ist die Ukraine das größte Land Europas (wenn man den europäischen Teil Russlands nicht dazu rechnet!), aber auch das Land mit den größten Herausforderungen. In Kiew und in den anderen größeren Städten leben ungefähr 126 000 Kinder auf der Straße. Sie stammen aus zerrütteten Familien, in denen oft ein Elternteil trinkt und die Kinder schlägt oder der Vater die Familie ganz verlassen hat. Für eine alleinstehende Mutter ist es daher fast unmöglich, ihre Kinder ohne eine zusätzliche Hilfe durchzubringen. Also gehen die Kinder auf die Straße, um der Misere im Haus aus dem Weg zu gehen und sich nach einer Arbeit umzusehen.
Bruno, ein französischer Mitbruder von Pater Rolf-Philipp, der das Rehabilitationszentrum „Beth Myriam“ für Straßenkinder und Kinder aus armen Familien leitet, hat schon hunderten verwahrlosten Kindern in Kiew geholfen und ihnen wieder einen Weg zurück in ein normales Leben ermöglicht. Zur Zeit bekommen 38 Kinder täglich eine warme Mahlzeit in „Beth Myriam“. Sie können die schönen Räume nützen und dort nach der Mahlzeit in Ruhe ihre Hausaufgaben machen oder auch mit den anderen Kameraden spielen. Doch leider gibt es in der Ukraine noch immer ein veraltetes Gesetz aus alter Zeit, dass es einer ausländischen Hilfsorganisation verunmöglicht, Kinder unter dem 16. Lebensjahr in einem Kinderheim übernachten zu lassen. Dass Bruno die meisten Kinder am späten Nachmittag auch während der kalten Wintertage wieder auf die Straße schicken muss, schmerzt ihn besonders. „Aber was kann ich dagegen nur tun Wenn die Kinder bei mir bleiben, kann es sein, dass in der Nacht die Polizei vorbei kommt und eine Razzia durchführt. Der ehemalige Präsident Viktor Juschtschenko hatte mehrere Male versprochen, dieses Gesetz zu ändern, doch dann geschah wieder nichts.“ Im Moment können daher nur sechs Burschen zwischen dem 16. und 18. Lebensjahr im Kinderheim wohnen. Doch Bruno hofft weiter, dass mit der neuen Regierung endlich auch dieses Gesetz geändert wird und dann wieder mehr Kinder in „Beth Myriam“ übernachten können.