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Unsere Volontärin Stephanie hat Sehnsucht nach dem Osten und verbringt einen Monat in unserem Kinderhaus in Kiew. Seit ihrem Studium an der St. Petersburger Universität verbindet sie eine tiefe Liebe zu den Menschen und der Kultur Osteuropas. Vor zwei Monaten hat sie unsere Webseite entdeckt und spontan angeboten, ein Volontariat in einem unserer Kinderhäuser zu machen. Sie ist soeben in Kiew angekommen und wenn sie nicht gerade Butterbrote (Butterbrodiki) schmiert, wird sie uns regelmässig an ihren Erfahrungen teilhaben lassen.
Es ist mein erster Wochentag bei Vitalij und Irina im Dom Marii in Kiew. Zwei Tage hatte ich Zeit anzukommen und die habe ich genossen. In meinem süssen Zimmer mit Blick auf den See, Ruhe und Zeit, die Umgebung zu erkunden. Sogar das Wetter zeigt sich von seiner gastfreundlichen Seite. Vitalij hat den Tag vor meiner Ankunft mit einer Lieferung Hilfsgüter und dem ukrainischen Zoll verbracht und mich – entspannt, wie man nach einer gelungenen Zollabwicklung sein darf – am Flughafen Boryspil abgeholt. Irina hat in der Zwischenzeit den Kühlschrank gefüllt, mit diesen für Osteuropa so typischen Lebensmitteln, die hier eben doch anders schmecken als anderswo auf der Welt: Wurst und Käse, frische Tomaten und Gurken sowie die unverzichtbare Smetana, die einfach in und auf alles gehört, was essbar ist.
Heute aber soll es mit der Ruhe vorbei sein. Zwischen 50 und 70 Kinder kommen jeden Nachmittag in das grosszügige Haus am Stadtrand von Kiew um zu lernen, zu spielen, zu essen und Aufmerksamkeit zu geniessen. Ich bin aus Zürich hierher gereist, weil ich an diesem wichtigen Projekt der Osteuropahilfe teilnehmen und auch mithelfen möchte.
Kaum angekommen, formieren sich die Jungen und Mädchen zwischen 5 und 14 Jahren wie ein eingespieltes Schweizer Uhrwerk in der grossen Küche. Ich darf mir alles bei ihnen abschauen. Mit Geduld und Freude an meinem dadaistischen Russisch erklären sie mir den Inhalt für ihre Lunchpakete und wie er dort hinein kommt. Wir essen gemeinsam. Die Lehrerinnen für Umweltkunde und die Ukrainische Sprache, die Kinder und ich. Ein lernbehindertes Mädchen freut sich besonders über die neue „Tante“ und gibt mir als Zeichen ihrer Zuneigung 3 gehäufte Esslöffel Zucker in den Tee. Das amüsiert auch die anderen Kinder am Tisch, die kichernd abwarten, wie ich mit so viel Grosszügigkeit zurechtkomme. Nach dem Essen gehe ich zurück in die Küche, um den Abwasch zu machen und zu putzen. Es ist nur leider schon alles sauber.
Also, ganz ehrlich? Ich bin wirklich beeindruckt von dieser mühelosen und spielerischen Selbstorganisation und der Selbstverständlichkeit, mit der hier alle mithelfen. Was kann ich also noch tun, ausser zu staunen? Der Deal: In den nächsten Wochen üben wir fleissig Englisch und als Dankeschön bekomme ich meine Russische Grammatik geradegezupft. Ein paar Grundkenntnisse Ukrainisch gibt es auch noch dazu. Wenn das keine Hilfe ist! Ich freu mich auf die nächsten Tage und Wochen in Kiew. Sehr sogar.
Am Tag meiner Ankunft sind mit mir eine Gruppe „Scouts“ aus Frankreich angekommen. Freunde von Bruder Bruno, der die Sozialstation in Mala Racha leitet. Sie unterhalten ihre eigene Hilfsorganisation, nutzen jedoch die Gastfreundschaft des KInderzentrums und das Beziehungsnetz und die Landeskenntnisse von «Triumph des Herzens». Miteinander helfen, statt gegeneinander arbeiten, lautet die Devise. Das ist, wie ich vielfach gehört habe, keine Selbstverständlichkeit. Denn oft herrscht zwischen den einzelnen Hilfsorganisationen Konkurrenz um Spendengelder, die hier vor Ort auch Arbeitsplätze sichern. Eine Haltung, die für die Hilfe vor Ort nicht immer zuträglich ist.
Nachdem wir gemeinsam Mittag gegessen und ein kleines Fläschchen Vin Rouge geteilt haben, fahren wir los, um einen Sattelschlepper mit Hilfsgütern zu entladen. Zum Glück bin ich in Zürich gerade umgezogen. So kann ich meine neu erworbene Kompetenz in Sachen Möbelrücken und Kisten schleppen gleich anwenden. Hilfe kommt von einem ukrainischen Bauunternehmer, der mit Häusern deutscher Qualität sein Geld verdient und Lagerräume bereitstellt. So darf ich in heimischer Atmosphäre Medikamente, Rollstühle, Lebensmittel, Möbel und Kleidung ausladen. Fünf Stunden lang. Als wesentliche Herausforderung stellt sich jedoch das akkurate Zählen der Hilfsgüter heraus. Leider waren wir uns bei den 642 (oder waren es 643?) Kisten mit Lebensmitteln nicht mehr ganz sicher. Also, nochmal von vorne. Die hiesigen Ministerien kennen kein Pardon und man verscherzt es sich nur zu leicht mit den Obrigkeiten.
Die Hilfslieferung kommt Flüchtlingen und verwundeten Soldaten zugute, die aus der Ostukraine in andere, sichere Städte geflohen sind. Mit nichts ausser ihrer Familie und zu Teil noch nicht einmal das. Während sich Europa den Flüchtlingsströmen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan zuwendet, hat sich die Lage hier längst nicht stabilisiert. So gehört es nach wie vor zu den wichtigsten Aufgaben der Osteuropahilfe, den Menschen aus Ostukraine zu helfen. Gut, dass ich einen kleinen Beitrag dazu leisten konnte.
Eigentlich wollte ich mich heute wieder mehr den Kindern zuwenden, deren Betreuung und Förderung die Hauptaufgabe des Dom Marii ist. Aber es kam ganz anders. Vitalij wedelt mir zur morgendlichen Begrüssung mit ein paar Papieren entgegen. Der Inhalt: die Deklaration der Hilfsgüter, die letzten Freitag hier angekommen sind. Das Problem: Einige der Hilfsgüter, beispielsweise Windeln, waren auf der Ladeliste nicht als „ungebraucht“ deklariert worden. Meine Aufgabe: In die Geschäftsstelle Schweiz anrufen und um die Korrektur der Ladeliste bitten und einen Entschuldigungsbrief an das Ministerium für Soziales schreiben, damit die Waren freigegeben werden.
OK! Ich versuche in einem Anflug von Größenwahn einen Brief in amtlichem Russisch zu verfassen. Das Ergebnis: Knapp daneben ist auch vorbei und es war sowieso ein Missverständnis, dass ich den Brief hätte schreiben sollen. Also: Nochmals in die Schweiz anrufen und um die korrigierte Liste und den Brief inkl. Übersetzung ins Russische bitten. Eine Stunde später ist alles da! Was ich heute gelernt habe: Dass die ukrainischen Behörden bürokratischer (und noch kleinlicher) sind als bei uns. Dass man das nicht unbedingt verstehen muss. Dass man sich auf die Leute in unserem Netzwerk verlassen kann. Und dass das gut für meine Nerven war.
Heute war ein ganz normaler Wochentag im Dom Marii. Aber was heisst normal? Den Vormittag verbringen wir mit administrativen Dingen und diesem und jenem, was im und ums Haus so anfällt. Zwischen ein und zwei Uhr stürmen die ersten Kinder ins Haus. Eines von ihnen ist Maxim. Maxim ist fünf Jahre alt. Gross genug, um mein privates Schokoladendepot im obersten Fach des Küchenregals zu entdecken. Ich gebe ihm heimlich ein Stück Früchteschokolade, bis auch seine Freunde heimlich ein Stück abhaben möchten. Zum Glück ist Irina im Garten, so dass sie von meinem erzieherischen No-go's nichts mitbekommt. Irina ist Pädagogin und das merkt man. Es beeindruckt mich zutiefst, wie sie diesen schmalen Grad zwischen Autoritätsperson und vertrauenswürdiger Ansprechpartnerin Tag für Tag meistert, ohne auch nur einmal aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Heute ist wunderschönes Wetter und wir gehen nach dem Mittagessen in den grosszügigen Garten und auf den dazugehörigen Spielplatz. Wer schon einmal durch eine osteuropäische Stadt ausserhalb der touristischen Zentren gelaufen ist, weiss, dass Spielplätze ihren Namen kaum verdienen. Flaschen, Spritzen, Müll und Dreck, sowie Gruppen alkoholisierter Menschen sind dort eher anzutreffen als Kinder und das ist kein Klischee. Leider. Die Leute sind einfach mit ihren grösstenteils staatsgemachten Problemen völlig allein gelassen und ohne Arbeit und Perspektive liegt der Griff zur Flasche nur zu nah. Das ist die traurige Wahrheit. Im Dom Marii findet zumindest die kommende Generation einen geschützten Raum. Drinnen wie draussen. Und eine deutsche Tante, mit der sie Fangen und Verstecken spielen können. Es rührt mich, wie jedes einzelne Kind um meine Aufmerksamkeit buhlt. Ich bekomme mal ein kleines Armband geschenkt, mal eine Schnecke in den Ausschnitt gesteckt. Die Art und Weise, wie sie auf sich aufmerksam machen, fällt recht unterschiedlich aus, aber man merkt deutlich, was alle hier suchen – und finden.
Seine Mutter wohnt ausserhalb von Kiew und auf dem Land gibt es gar keine Betreuung für Jugendliche wie Oleg. Nicht, dass sie in der Stadt üppig vorhanden wäre, aber ausserhalb existiert sie schlicht überhaupt nicht. So bleiben junge Menschen mit Behinderungen häufig bei ihren Müttern und deren Familien. Sie werden weder speziell gefördert, noch haben sie die Chance, regelmässig mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen. Anders im Dom Marii. Oleg darf hier einfach SEIN. Egal ob er mitspielen möchte oder nicht, mit uns gemeinsam essen möchte oder nicht – Oleg ist willkommen. Oft genügt es ihm, an einem kleinen, separaten Tisch gemeinsam mit seiner Mutter zu essen, während andere Kinder neugierig dazu kommen.
Oleg hat gerne seine Ruhe. Aber er spricht auch ein wenig, wenn er sich dazu entschieden hat, jemanden zu mögen. Am liebsten Englisch. Auch seiner Mutter tut der Austausch mit mir und den Lehrerinnen gut. Sie ist alleinerziehend. Die Ehe hat unter anderem der Belastung durch einen behinderten Sohn nicht standgehalten. Sicher ist diese Herausforderung auch in Westeuropa nicht leicht zu meistern. Aber hier in der Ukraine sind Eltern von Kindern mit speziellen Bedürfnissen oft völlig auf sich allein gestellt. Hinzu kommt ein sehr traditionelles Geschlechterverständnis. Männer tun sich schwer, Schwächen und Krankheiten, speziell bei Söhnen, zu akzeptieren und wissen kaum damit umzugehen. Abhauen und eine neue Familie gründen ist leider oft die Lösung. Nach dem Mittagessen darf Oleg mit den anderen Kindern malen und basteln. Es fällt ihm nicht leicht mit seinen Mitmenschen in Kontakt zu treten. Augenkontakt ist zum Beispiel nur schwer möglich, weshalb Oleg auch gar nicht gerne in die Kamera gucken möchte. Dennoch wird er hin und wieder angesprochen. Und Oleg kann, wenn er will, sehr lustig und schlagfertig sein und uns alle zum Lachen bringen. Dazu hätte er alleine nie die Chance.
Das Ende der Woche ist der Anfang aller Sauberkeit! Heute im Fokus: der Garten. Hier gibt es Tomaten, Gurken, Zwiebeln, Kirschen, Pfirsiche, viele schöne Rosen und – Rasen. Vitalij nennt zwei Rasenmäher sein eigen, die er sehr liebt und nicht aus der Hand gibt. Irina, Vitalijs Mama und ich nehmen Rechen, Kisten und Tüten zu Hand und transportieren das Gras ab.
Das ganze erinnert an die ländliche Ukraine im 19. Jahrhundert und Vitalij befürchtet bereits, dass ich in der Schweiz erzähle, ich wäre in die Sklaverei verfallen. Dazu wird das kleine Schwimmbecken geputzt, das Unkraut gejätet, die Rosen geschnitten, die Wege gefegt, das Tiergehege geputzt, der Spielplatz aufgeräumt, die Fahrräder in Stand gebracht – kurz: alles kommt tip-top in Schuss. Warum ist das erwähnenswert? Ich finde es einfach toll, was die beiden leisten, um diesen wunderbaren Ort zu gestalten und zu erhalten. Man sieht ja oft nur die Dinge, die nicht stimmen, aber hier stimmt so vieles. Besonders das Wohlgefühl.
Ich habe heute mein erstes Schulheft bekommen. Von Lisa, 8 Jahre. Lisa lebt mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder in einer 1-Zimmer-Wohnung. Sie teilen sich jeweils ein Doppel-Bett. Da ist kaum Platz für eine richtige Kindheit oder ein konzentriertes Erledigen der Schulaufgaben. Ihr Vater hat Arbeit, aber wenn er nach Hause kommt, sagt Lisa, „beschäftigt er sich lieber mit seinem Computer als mit mir“. Die ältere Schwester hat bereits geheiratet und lebt mit ihrem Mann in ihrer eigenen Wohnung. Heirat ist oft die erstbeste Lösung, die Jugendlichen in den Sinn kommt, wenn es darum geht, aus den beengten Verhältnissen von Zuhause zu flüchten. Das wiederum befeuert den Kreislauf der Bildungs- und Perspektivlosigkeit und mündet auch in der nächsten Generation wieder in relative Armut.
Im Dom Marii hat Lisa die Chance, diesem Kreislauf zu entkommen. Wie gut sie das verstanden hat, zeigt sie mir, indem sie mich mit einem sehr hübschen, selbstgekauften Vokabelheft ausstattet. Es soll mein erstes Russisch-Ukrainisches-Vokabelheft werden. Als Dankeschön bekommt sie von mir auch ein Vokabelheft. Für ihr Englisch und ihre Zukunft. Makes sense!
Das Kindezentrum Dom Marii ist nicht nur ein Platz für Kinder, sondern auch ein Ort der Begegnung. Es gibt nicht viele Orte in der Ukraine, die für Zusammenkünfte, Erholung und Weiterbildung geschaffen sind. Erst recht nicht zu erschwinglichen Preisen. Diese Lücke füllt das Haus in der Shevchenka-Strasse. Egal ob Pfadfinder aus Frankreich oder Gläubige aus der ganzen Ukraine und Polen – hier ist Raum für gute Gedanken und gemeinsamen Austausch
Für mich besonders interessant: die Mädchengruppe, die gemeinsam mit 2 Ordensschwestern angereist ist. Der Besuch im Dom Marii gehört mit zu einem Vorbereitungsjahr oder „Schnupperjahr“ vor einem möglichen Beitritt ins Kloster. Das ist hier weder altmodisch noch weltfremd, sondern eine ganz reelle und fröhliche Option. Dazu natürlich ein Segen für den ganzen sozialen Bereich.
Anja und ihre jüngere Schwester Katja sind ein gutes Beispiel dafür, was konsequente Unterstützung leisten kann. Die beiden haben noch weitere sechs Geschwister. Einer Mutter mit acht Kindern gibt kaum jemand eine Arbeit. Folglich ist das Geld sehr knapp und – was das Leben noch schwieriger macht – eine Vorbildfunktion gibt es unverschuldeterweise auch nicht.
Anja und Katja kommen seit sie klein sind zu Vitalij und Irina ins Dom Marii. Das sind über 10 Jahre. Sie sind ein Vorbild für die jüngeren Kinder und managen den Alltag im Haus mit. In allen Bereichen sind sie eine echte Hilfe. Egal, ob beim Bügeln, Boden wischen oder Regeln erklären und durchsetzen, die beiden haben sich Respekt verdient. Mit der Schule sind sie fast fertig. Anja möchte gerne Anwältin werden. Gute Voraussetzungen hat sie.
Violetta (8 Jahre) gehört zu einer ganzen Reihe von Kindern, deren Eltern aus den Krisenregionen im Osten der Ukraine geflohen sind. Diese Familien haben es sehr schwer. Kiew hat bereits viele Flüchtlinge aufgenommen und der Arbeitsmarkt ist für Menschen, die nur irgendeine Arbeit suchen, sehr schwierig. So bleibt neben dem täglichen Kampf um ein einigermassen normales Leben kaum Zeit, sich um die Kinder zu kümmern. Diese mussten von einem Tag auf den anderen alles zurücklassen und viele von ihnen haben Traumatisches erlebt. Im Kinderzentrum der Osteuropahilfe in Kiew hat Violetta neue Freunde gefunden und kann die Unbeschwertheit ihrer Kindheit wieder leben.
Mit Anton und seinem «best Buddy» Seba habe ich fast jeden Tag zu tun. Nicht alle Kinder kommen täglich ins Dom Marii und nicht mit allen kommt man gleich viel in Kontakt. Die beiden sind ein herrlich ungleiches Paar und erinnern mich immer wieder an Pat und Patachon. Anton ist ganz neu hier. Er ist umsichtig, vernünftig und unglaublich höflich. Seba hingegen ist ein unterhaltsamer kleiner Heisssporn, der viel Aufmerksamkeit braucht (wie wir gleich in Antons Interview erleben können.)
Anton lebt mit seiner Mutter und seinem Vater zusammen und hat sogar ein eigenes Zimmer, was hier eher die Ausnahme als die Regel ist. Trotzdem leidet auch er sehr darunter, dass seine Eltern aus ökonomischen Gründen kaum Zeit finden, Eltern zu sein und kein Geld haben, die kranke Grossmutter richtig behandeln zu lassen. Leider bricht das Gespräch am Ende etwas abrupt ab. Ich habe Seba mehrfach versucht zu erklären, dass ein Interview ein Gespräch zwischen z w e i Menschen ist. Mit mässigem Erfolg, wie man sieht. Aber keine Sorge, sein Interview kommt auch noch.
Jeden Tag holt Vitalij die Kinder, die nicht in Gehweite wohnen, mit dem Bus ab und bringt sie ins Kinderzentrum. Wer einmal in Kiew war, weiss, dass dies kein einfaches Unterfangen ist. Die Strassen sind wenig systematisch angelegt, Strassennamen und Hausnummern oft versteckt. Nicht jedes Kind ist jeden Tag dabei. Neue Kinder aus anderen Bezirken kommen wöchentlich hinzu. Alles in allem eine logistische Meisterleistung. Besonders im Winter, wenn es gegen fünf Uhr bereits dunkel ist.
Mit von der Partie sind heute Natalja Mironovna, Lehrerin für Ukrainisch und Natalja Grigorevna, Lehrerin für Umweltkunde. Sie unterrichten die Kinder nach dem Mittagessen, oder beschäftigen sich mit ihnen beim Malen und Basteln. Natalja Grigorevna ist bereits Pensionärin aber für die meisten Rentner beginnt nach der Pensionierung absurderweise erst recht die Suche nach einer Arbeit, weil die Rente in der Regel zum Leben nicht reicht. So wurde mir von Müttern und Vätern berichtet, die nach ihrer Pensionierung einen Handel mit Kleidern eröffnen oder Gemüse verkaufen. Wem nichts einfällt oder wer einfach nicht kann, hat Pech. Natalja Grigorevna lebt mit ihrer Tochter zusammen. Sie haben zwei Kinder aus dem Kriegsgebiet in der Ostukraine bei sich aufgenommen. Ein weiteres soll hinzu kommen.
Mascha, die ganz zum Schluss aus dem Bus steigt, ist etwas ganz Besonderes. Sie ist zehn Jahre alt und leicht geistig behindert, vermutlich eine Form von Autismus. Sie war zuvor in einem Heim für geistig Behinderte und kann nun im Dom Marii mit gesunden Kindern zusammen sein, was ihr - wie man sieht - unglaublich gut tut.
Seba kennen wir schon aus Antons Interview (siehe Eintrag vom 16.April). Er ist sozusagen Antons bestes Gegenstück und nie, wirklich nie zu bremsen. Deshalb ist der Interviewstil, sagen wir mal, etwas einseitig. Und doch: Was wir hier erfahren, macht deutlich, wie sehr manche Kinder auf sich allein gestellt sind. Ganz einfach, weil es für die Eltern so schwer ist, Arbeit zu finden oder sie – wie Sebas Vater – nachts arbeiten müssen. Seba ist, wie wir hören, stolz darauf, dass er schon so selbständig ist und versteht noch nicht, dass ihm dabei eigentlich vieles fehlt. Das Dom Marii gibt ihm etwas davon zurück: Betreuung und Aufmerksamkeit.
Guten Appetit und gutes Gelingen! In der Kulinaria lernen die Kinder Backen und Kochen. In den letzten drei Wochen von mir. Ich darf mir ein Wunschgericht aussuchen und Irina besorgt netterweise alle Zutaten. Mein erstes Kulinaria-Gericht: Spaghetti-Bolognese. Mein wichtigstes Learning: Spaghetti werden zwar von allen gemocht aber leider nicht von allen gekocht. Spricht: Die Zutaten sind zu wenige. Damit sind einige der Kinder unterbeschäftigt, was dazu führt, dass sich alle lauthals streiten und das vor einem brodelnden Kochtopf. Danke Irina, dass du diese Kulinaria-Episode so gut überhört hast.
Nach dieser pädagogischen Erkenntnis mache ich mir das Leben einfacher und den Kindern schöner: mit Pizza. Diesmal läuft alles perfekt und die Idee kommt auf, die Pizzeria Dom Marii zu eröffnen. Besonders die älteren Mädchen sind eine grosse Hilfe und sorgen mit für Ordnung, Sauberkeit und Struktur. Irina erzählt, dass sie schon früh damit begonnen hat, die Mädchen nach einem Punktesystem zu belohnen. Wer alles richtig macht: die Haare zusammenbindet und mit einem Tuch schützt (ähhäm, Steffi), zwischendurch alles wegräumt und wegwischt (oh ja, Steffi) und noch dazu ein leckeres Gericht zaubert, gewinnt.
Ehrlich gesagt – ich bin stolz auf das, was wir mit den Mädchen heute geschafft haben. Nicht nur die Küche sieht aus, als hätte man sie gerade neu eingebaut. Niemand hat sich gelangweilt, alle waren glücklich, neugierig und – am Ende – zufrieden bei der Sache. Wir haben es sogar geschafft, noch eine zweite Pizza zu backen. Mit Thunfisch und Zwiebeln. Den Teig machen und ausrollen ist ja mit das Schönste an dem ganzen Spass. Wie man sieht, haben sich beim zweiten Durchgang auch andere Mädchen beteiligt. Katja trägt ihre Profi-Kochkleidung, die sie sich bei einer anderen Kulinaria verdient hat. Und was am Ende das Wichtigste ist: Es schmeckt!
Die russisch-orthodoxe Kirche feiert Ostern – wie wir auch – am Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling. Allerdings ist der russische Kalender ja ein anderer, der so genannte julianische Kalender. So kommt es, dass ich kurz vor meiner Abreise noch die Vorbereitungen zum russisch-orthodoxen Osterfest miterleben darf. Hier im Kinderzentrum der Osteuropahilfe haben die Kinder auf den Abdruck ihrer Hände Wünsche geschrieben, die sie auf einem Poster zusammengeklebt haben.
Heute ist mein letzter Tag, obwohl es mir so vorkommt, als wäre ich gestern erst angekommen. Irina hat mir ein „bisschen was“ zu Essen für den Flug mitgegeben. Hoffentlich hat mein Handgepäck kein Übergewicht. Dreieinhalb Wochen habe ich im Dom Marii verbracht. Es war eine eindrückliche Zeit, in der mich vieles nachhaltig beeindruckt hat.
Die Arbeit, die vor Ort geleistet wird: Irina und Vitalij machen diesen Job seit vielen Jahren und sie machen ihn phantastisch. Ein grosses Haus, ein riesiger Garten, 30 bis 50 Kinder pro Tag. Abholen, Mittagessen vorbereiten, Spielen und jeden Tag um 17:00 Uhr – Aufräumen und Putzen. Vieles machen die Kinder selbst und dennoch – es ist immer viel zu tun, denn auch am Wochenende kommen Gäste. Auch die Lehrerinnen geben ihr Bestes, damit alle eine schöne unbeschwerte Zeit haben und dabei dennoch etwas lernen.
Die Arbeit die hinter dem Projekt steckt: Ich reise seit Mitte der 90er Jahre immer wieder nach Osteuropa und ich glaube beurteilen zu können, wie schwierig der Aufbau einer effektiv arbeitenden Hilfsorganisation ist. Die Bürokratie, die Unsicherheiten, mangelnde Unterstützung durch den Verwaltungsapparat vor Ort, fehlende Sicherheit und Strukturen. Alles in allem muss es ein Kraftakt gewesen sein, das Kinderzentrum in Kiew, wie auch die anderen Projekte der Osteuropahilfe aufzubauen. Und dabei noch fröhlich und guter Laune zu bleiben. Well done, Pater Rolf und alle anderen, die daran mitgewirkt haben und mitwirken.
Der Überlebenswille der Menschen vor Ort: Vielleicht klingt das für unsere verwöhnten Ohren etwas übertrieben. Aber wenn der Mindestlohn und die Mindestpension keine 40 Euro beträgt und die Lebenshaltungskosten bei 200 Euro liegen – dann kann von einem Leben nicht die Rede sein. Die „Krise“ nennen die Leute das. Ein Zustand der hier – mehr oder weniger – seit 20 Jahren anhält. Trotzdem versuchen alle, das Beste daraus zu machen. So haben mich die Beete und Gärtchen vor den unwirtlichen Hochhäusern in der Nachbarschaft so fasziniert, die mit allem bestellt werden, was der Alltag so hergibt.
Was bleibt: Irina Vitalij und ich haben fast jeden Abend zusammen gegessen und Veronitschka, die knapp zweijährige Tochter der beiden, Wova der Bruder, wie auch die Mama von Vitalij waren oft mit dabei. Das verbindet und wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt. Auch die Kinder werden mir fehlen. Und wie ich manchmal höre – ich ihnen auch.
International Humanitarian
Assoc. «Triumph of the Heart»
Vitalij und Irina Tyron
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